In der ersten Oktoberwoche bekamen wir erneut ungeplanten Familienzuwachs. Hört das denn nie auf? Eigentlich wollten wir doch nur zu zweit bleiben … und nun ist da Schorsch.
Es war der Sonntag nach dem Tag der deutschen Einheit. Morgens hingen wir ein wenig in den Seilen und hatten keine Ambitionen, heute großartig was zu reißen. „Lass uns heute irgendwas Abgefahrenes machen, von dem wir jetzt überhaupt nicht gedacht hätten, dass wir das heute noch machen!“, schlug ich abenteuerlustig vor. Meine Äußerung sollte rückblickend einer Zukunftsvision gleichkommen. Denn ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich wenige Stunden später ein verwaistes Kamerunschaf fangen und zu uns bringen würde.
Wie immer waren wir draußen am Werkeln. Ich hatte mir für den Tag vorgenommen, Saatgut von Silberblatt und Staudenlein in Töpfe zu säen. Und es war schon abends, als ich endlich dazu kam. Als ich mit meinen beiden Blumenpötten zur Garage ging, wo wir die Blumenerde lagern, sah ich unten ein Schaf die Straße entlanglaufen. Auf der Straße. Na ja, bei uns ist die Straße ja zum Glück nur noch ein krautiger Feldweg aus zwei Reifenspuren. Trotzdem laufen dort eher selten Schafe allein herum. Ich rief David und zusammen wollten wir nachsehen, ob da alles mit rechten Dingen zuging.
Unsere Nachbarin war auch schon da. Sie war angerufen worden, da sie auch Schafe hält und Leute hier im Ort dachten, das könnte eventuell ihres sein. Und zu ihrer Schafherde, direkt gegenüber von unserem Grundstück, wollte das arme einsame Schäflein auch die ganze Zeit, allerdings gibt es dort keinen Zugang zu deren Weide. Zu viert trieben wir das kleine Schaf also erst einmal auf unseren Hof, da unser Grundstück komplett eingezäunt ist. Unsere Nachbarn fragten sofort bei Schafbesitzern in unserem und dem nächsten Dorf nach, aber niemand vermisste das Tier. Es hatte auch keine Ohrenmarke. Einfangversuche, um das Schaf wenigstens zu seinen Artgenossen auf die Weide unserer Nachbarn zu bringen, scheiterten; es war inzwischen total panisch und verängstigt. Außerdem wurde es bald dunkel draußen.So ließen wir es fürs Erste in Ruhe — und ich nutzte die Gelegenheit, um all unsere Hokkaidokürbisse zu ernten, damit diese nicht aufgefressen würden. Zum Glück hatten wir inzwischen nicht viel mehr in unseren Beeten wachsen und könnten alle eventuelle entstehenden Verluste (verwilderter Salat, Rukola, Mangold, die letzten Tomaten und etliche Chilipflanzen) verschmerzen. Das Schaf machte jedoch keine Anstalten, sich großartig auf unserem Grundstück zu bewegen und sein neues temporäres Habitat zu erkunden. Es lief immer nur verzweifelt vorne an der Straßenfront entlang, weil es zu der Schafherde auf der anderen Straßenseite wollte, und blökte hilflos.
Wir kontaktierten eine befreundete Tierärztin in der Hoffnung, dass sie mit einem Betäubungsgewehr oder ähnlichem anrücken würde, aber sie konnte zum Einfangen eines Schafs auch nur Brot und Einkesselversuche vorschlagen.
Am nächsten Tag benachrichtigten wir das zuständige Polizeipräsidium. Dort gab man sich eher desinteressiert bis hin zu belustigt über die Lage. Niemand hatte ein Schaf als vermisst gemeldet. „Zur Not wandert es in den Kochtopf“, wurde am Telefon lachend vorgeschlagen. Wie lustig. David versuchte es dann noch beim örtlichen Tierheim. Auch dort hatte niemand etwas über vermisst gemeldete Schafe gehört. Wir könnten aber ein Foto schicken und sie würden es auf ihrer Facebookseite („Wir haben 10.000 Follower!“) veröffentlichen. Aber davon sahen wir ab. Was passiert wohl, wenn wir öffentlich fragen, ob jemand ein junges Schaf einer Fleischrasse vermisst? Vermutlich stehen kurze Zeit später dutzende vermeintliche „Eigentümer“ vor unserem Haus Schlange und lecken sich die Lippen.
Vorerst erhielt das Schaf (obwohl biologisch weiblich) den Namen Schorsch, in Anlehnung an seine Rasse benannt nach Schorsch Kamerun, und durfte bei uns bleiben. Vorerst. Obwohl ich nie, nie, nie, wirklich noch nie, ein Schaf bei mir aufnehmen wollte! Denn wenn uns vier Jahre Landleben eines gelehrt haben, dann dass Schafe mit Abstand die ätzendsten, lautesten, nervigsten Tiere sind, die eins sich vorstellen kann! Wir waren zu diesem Zeitpunkt gerade heilfroh darüber, dass zwei verhasste Schafe in unserer unmittelbaren Umgebung kurz zuvor verkauft worden waren. Und nun war da plötzlich Schorsch, unsere eigene Nervensäge.
Im Rahmen dieser ganzen Chose beschäftigte ich mich erstmals mit Schaf“haltung“. Schafe werden von der Gesellschaft als sogenannte Nutztiere angesehen. Eins lebt nicht mit ihnen zusammen, erstrecht nicht als Familie, nein — sie werden „gehalten“, so wie in „festhalten“. Sie haben nur Wert und Daseinsberechtigung, wenn sie ausgebeutet werden oder ihnen das Leben genommen wird. Sie haben so gut wie keine Persönlichkeitsrechte. Als ich mich darüber informierte, ob und wie Schafe mit Ohrmarken versehen werden müssen, kam mir fast das Kotzen. Im „Merkblatt für Schaf- und Ziegenhalter“ (sic! Nur für männliche Personen!) in Sachsen-Anhalt heißt es beispielsweise:
5. Kastration
- Erlaubt ist das Kastrieren (z.B. mittels Burdizzo-Zange) von unter vier Wochen alten Schafen oder Ziegen ohne vorherige Betäubung und das Kastrieren (z.B. mittels Burdizzo-Zange) von über vier Wochen alten Schafen oder Ziegen mit vorheriger Betäubung. […]
6. Kürzen der Schwänze
- Erlaubt ist das Kürzen der Schwänze von unter acht Tagen alten Schafen oder Ziegen (auch mittels elastischer Ringe) ohne vorherige Betäubung. […] (meine Hervorhebungen)
Neugeborenen Säuglingen — kleinen Babys — dürfen in den ersten acht Tagen ihres Lebens also ohne Betäubung die Schwänze abgeschnitten werden.
Vier Wochen alten Säuglingen dürfen ohne Betäubung die Hoden abgeschnitten werden. Mit einer Zange. Diesen neugeborenen Babys wird jegliches Schmerzempfinden abgesprochen. Wie sieht es mit menschlichen Babys aus? Dürfen denen auch im ersten Monat mit einer Zange ohne Betäubung die Hoden abgeknipst werden? Wird das ohne jegliche Bedenken gemacht? Und ist das für die Mutter des Babys in Ordnung? Schaut sie wohl teilnahmslos dabei zu, wie ihr neugeborener Sohn festgehalten wird und ihm jemand mit einer Zange die Hoden abschneidet, während er in Todesangst und vor Schmerzen schreit? Sind sich alle darüber einig, dass solch eine Erfahrung für diese Person keine Traumatisierung zur Folge hat, unter der sie den Rest ihres Lebens leidet?
Alle Schafe und Ziegen müssen bis zu einem Alter von neun Monaten mit einer Ohrmarke gekennzeichnet werden. Vermutlich ist Schorsch also jünger, weil sie noch keine solche Marke hat. Es gibt übrigens keine Verpflichtung zur Betäubung der Tiere für die Anbringung dieser furchtbaren Ohrmarken. Und erschreckenderweise dürfen die „Eigentümer*innen“ das Durchstechen sogar eigenhändig vornehmen. (PeTA hat hierüber einen Artikel veröffentlicht). Auch in diesem Fall werden den Tieren also keine Persönlichkeitsrechte zugestanden. Und erst recht keine Fähigkeit der Leidempfindung. Beschissene ignorante Scheißwelt.
Nicht nur hatten wir jetzt eine weitere Person in unserem Verantwortungsbereich, für die wir Sorge tragen müssen; zu unserer Verpflichtung gehörte nun auch, dass wir dieser Person ohne ihre Zustimmung körperlichen Schaden zufügen (lassen) mussten. Wenigstens hatte Schorsch nur kurzes Fell, welches nicht geschoren werden muss. Trotzdem konnten und wollten wir sie auf die Dauer nicht bei uns auf dem Hof leben lassen. Sie brauchte Artgenoss*innen, mit denen sie leben kann.
Glücklicherweise erklärten unsere Nachbarn sich bereit, Schorsch bei sich aufzunehmen und in die bereits bestehende Herde zu integrieren. Zu dritt kesselten wir das Schaf ein und fingen es. Es ließ sich dann anstandslos auf dem Arm zu seinem neuen Zuhause tragen, in dem es in Quarantäne erstmal entwurmt, geimpft und markiert wird.
So fanden unsere Schafscherereien letztlich doch noch ein gutes Ende. Und wir wissen nun, dass wir keine Schafe bei uns aufnehmen wollen. Und dass unsere Familie vorerst vierköpfig bleiben soll — bis die nächste heimatlose Person bei uns auftaucht …