Das erste Wochenende auf Fruitlands, vollgepackt mit blindem Aktionismus

Die verrosteten grünen Container stehen immer noch da, aber jetzt sind sie voll mit Sperrmüll und Altmetall. Das ist das erste, das mir auffällt, als ich am Freitag mal wieder die lange Einfahrt unseres Bauernhofgrundstücks hochtrabe, nachdem ich zuvor unten an der Straße für David das Tor geöffnet habe. Als ich oben am Haus ankomme, hat David schon längst das Auto geparkt und den Vorbesitzer und seine Kollegen begrüßt, die sich nach getaner Arbeit eine Zigarettenpause gönnen. Für heute sind sie fertig mit dem Entrümpeln. Dieses Wochenende wird anders für David und mich. Zum allerersten Mal werden wir zwei auf unserem frischersteigerten Grund und Boden alleine sein, und zum ersten Mal werden wir auch in dem klotzigen alten Wohnhaus übernachten.

Das Haus bietet von innen und außen einen traurigen Anblick. Als sei es von guten Freunden verraten worden. Schon seit zwei Jahren steht es vereinsamt hier herum und wartet sehnsüchtig darauf, dass ihm neues Leben eingehaucht und neuer Mut zugesprochen wird. Niemand wollte es haben, seit es vor anderthalb Jahren so lieblos auf den Markt geworfen wurde. Zu alt. Zu hässlich. Zuviel kaputt. Zu weit weg. Zuviel Arbeit. Und jetzt.

Jetzt sind wir hier, und es gehört uns. Und wir lieben unser Haus! Trotz seines bislang gefristeten Schattendaseins.

Innen starren mich die trostlosen Wände nackt an; ganz schamlos und entblößt räkeln sich die Schimmelflecken und erinnern den fremden Besucher daran, dass die Natur sich Raum und Materie zurückholt, wenn der Mensch aufhört, es für sich zu nutzen. Hie und da steht ein vergessenes Möbelstück, hängen noch Vorhänge an den Fenstern. Weinrote Weihnachtsdekoration ziert den Esstisch im Wohnzimmer. Stumm warten die Räume auf das, was nun kommen mag.

Ich reiße überall die Fenster auf. Die laue Sommerluft strömt herein und spült den Muff der verlassenen Zimmer bald nach draußen. Der Haupthahn wird nach vielen Monaten endlich wieder aufgedreht, das Wasser läuft, ich greife beherzt blauen Plastikeimer, alte Handtücher, bunte Lappen und farblich zum Eimer passenden Wischmop – jetzt geht die Grundreinigung los! In stundenlanger Arbeit vertreibe ich die altbackene, abgestandene Atmosphäre und schaffe Platz für Neues: neue Luft, neuen Glanz, neues Leben, neuen Anfang. Gleichzeitig ist das Säubern unseres neuen Zuhauses für mich ein meditativer und auch verarbeitender Vorgang. Ich lerne jeden Winkel und jede Fläche der Innenräume kennen. Ich freunde mich mit allen Ecken und Kanten an. Befühle die verblassten gemusterten Tapeten im Flur und den rauen Putz im Schlafzimmer. Ich versuche mir vorzustellen, dass dies alles nun mir gehört, und dass ich in diesem Augenblick die Erinnerung schaffe an den ersten richtigen Tag, an dem ich hier im Haus mit der Arbeit begonnen habe. Endlich, endlich fühlt es sich für mich so an, dass dies wirklich unser Eigentum ist. Zu abstrakt schien uns diese Aussage in den letzten vier Wochen, die wir immerhin schon Eigentümerinnen dieser Immobilie sind. So richtig konnten wir es bis heute nicht glauben, aber jetzt ist es endlich greifbar für mich. Ich putze diese Fenster, weil es meine sind, und weil ich es einfach möchte, und nicht wie sonst: weil ich entweder Geld dafür bekomme oder weil man das in einer Mietwohnung eben so macht (alles sauberhalten, falls der Vermieter doch mal vorbeikommt, und damit es beim Auszug keinen Ärger gibt, und überhaupt). Nein, das hier ist anders. Ich tue es aus freien Stücken, nur für mich.

Inzwischen geht es auf die acht Uhr abends zu. Draußen herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass ein Feuer entfacht werden sollte. David räumt die Feuerstelle frei, entkrautet die ringförmig angeordneten Schlackesteine, wie von Zauberhand liegt ein großer Berg Holz in der Mitte und zündelt auch schon laut knisternd gegen die schleichend hereinbrechende Dämmerung. Ziemlich unfeierlich wird David der Schlüsselbund mit den Haustürschlüsseln übergeben. Jetzt gehört es also uns. Fruitlands.

Bald sind wir allein auf dem riesigen Grundstück. Das Lagerfeuer ist die Schnittstelle, an der der Tag in die Nacht übergeht, an der die Vergangenheit und die Zukunft aufeinandertreffen. Das Jetzt.

Der erste Morgen

Stille. Allgegenwärtig und überall: Stille. So wachen wir am Samstagmorgen auf. Die Stille ist ungewohnt für uns Wahlgroßstadtkinder. In unserer Dortmunder Wohnung hört man selbst zu tiefster nachtschlafender Stunde das ferne Rauschen von Autos und all die anderen auditiven Zeichen einer zusammengepferchten Zivilisation. Hier auf dem Land beschränkt – oder vielmehr: entfaltet! – sich die Geräuschkulisse fast ausschließlich aufgrund der Nähe zu den nichtmenschlichen Tieren in unserer unmittelbaren Umgebung, hauptsächlich große und kleine Vögel. Das Ganze hat etwas zutiefst Beruhigendes und ohne auf die Uhr zu schauen machen wir uns sofort an die Arbeit.

Wir arbeiten von morgens bis spät abends. Als erste Maßnahme tauscht David einen zerbrochenen Dachziegel gegen einen intakten aus. Endlich regnet es nicht mehr ins Haus! Es hatte deswegen unten im Eingangsbereich schon angefangen zu schimmeln. Ich putze weiter das gesamte Wohnhaus (oder The Hive, wie ich es gern nennen würde, als Hommage an das Hauptgebäude der Brook Farm, der Vorreiterin der originalen Fruitlands-Farm in Massachusetts), während David etliche alte Holzmöbel mit einer Axt kleinschlägt. Wir inspizieren das Grundstück, retten eine alte Kommode aus dem Feuerholzstapel, schauen uns in Ruhe alles an und feilen an der Utopie, die hier einmal entstehen wird oder auch nicht. Der Dachboden ist staubig und noch voll mit alten Sachen, die wir durchsortieren und ausmisten. Werkzeug, Teppich, Laminat, sehr viel noch brauchbares Kinderspielzeug, Kleidung und Gardinen, ein großer Spiegel, Fliesen und einige Möbel. Der ehemalige Stall hat ebenfalls einen großen Dachboden, und zwar einen – Trommelwirbel und Spannung – dreistöckigen! Auch hier liegt noch allerhand Kram herum, den wir aber ersteinmal dortlassen. Der Staub macht mir zu schaffen. Sobald hier sauber gemacht wurde, ist dies ein schöner Ort. Wir gehen in den gruseligen Keller. Duster und feucht ist es dort, und rutschig ist der gestampfte Erdboden. Wir entdecken die Wasserpumpe, die im Herbst die unterirdischen Gewölbe halbwegs trockenhalten soll und noch einige andere brauchbare Sachen. Trotzdem möchte ich schnell wieder aus dem Keller heraus.

Im Wohnzimmer und soon-to-be-Gästezimmer fangen wir an, die Tapeten von den Wänden zu ziehen. An manchen Stellen geht das erschreckend leicht, weil sie klamm sind. Dutzende von Spinnen werden dadurch aufgescheucht und marschieren wutentbrannt in die nächstgelegenen Ecken. Im Gästezimmer kommt uns nicht nur die Tapete, sondern gleich auch der darunterliegende Putz als sandiger Schwall entgegen. Deshalb legen wir schon einen Teil des Mauerwerks frei. Ich hoffe, dass die Wände jetzt ein wenig besser trocknen können.

Nachmittags fahren wir nach Eisleben und besorgen ein paar Dinge im Baumarkt. Der neue WC-Deckel aus dunklem Bambus und eine ebenso brandneue Klobürste sind, wie wir bemerken, kleine Details, die im Bad aber eine große Wirkung haben. Wir tragen noch ein uriges Holzschränkchen herbei; schon sieht es auch in der Badestube hübscher aus.

Ich merke, wie wir dem Haus das Lebendige zurückgeben. Die Hoffnung kehrt zurück in dieses vergessene Idyll.

Bald kristallisiert sich wie von selbst der soziale Kernpunkt unseres Fruitlands-Alltags heraus. Überraschenderweise ist es der Windfang! Es zeigt sich schon nach wenigen Stunden, dass wir uns hier am liebsten aufhalten. Der Raum ist lichtdurchflutet und zentral, nach einer großangelegten Bodenschrubbaktion ist er außerdem sauber und staubfrei, und durch einige Handgriffe wird dies schnell zum gemütlichsten Raum. Ich entstaube die klobige verschnörkelte Eckbank aus Massivholz und den ebenso schnörkeligen Büffetschrank daneben. Wir stellen den Esstisch aus dem Wohnzimmer und einen Stuhl dazu, und nun fühlen wir uns hier richtig wohl. Der Windfang ist der Rand zwischen Draußen und Drinnen. Um uns die Weite der Natur und neben uns der sichere Hafen des Wohnhauses. Hier haben wir alles im Blick. Leo schreitet leise ein und aus und beobachtet alles ganz genau. Sie genießt hier lebenslanges Wohnrecht, das war quasi Teil der Abmachung beim Hauskauf: Die Katze darf natürlich hierbleiben; sie ist die heimliche Herrin des Territoriums, und mit ihrer liebenswerten ruhigen Art geben wir ihr gern die Streicheleinheiten, die sie zwischendurch immer wieder von uns erbittet.

Abends bereiten wir zum ersten Mal eine warme Mahlzeit in unserem neuen Haus – na ja, eigentlich im Windfang – zu: auf dem mitgebrachten Campingkocher brutzeln wir uns Bratkartoffeln mit Zwiebeln und drei panierte Sojasteaks. Ein wahrlich fürstliches Mahl dafür, dass wir hier keinen Strom und kein heißes Wasser haben! Wir sind zufrieden und glücklich.

Ausklang

Am Sonntag lassen wir es etwas ruhiger angehen. Die großen Mengen Staub nehmen mich ziemlich mit; meine Nase trieft und wird vom vielen Naseputzen wund. Trotzdem reiße ich noch weiter die Tapeten von den Wänden im Treppenhaus und räume die Küchenschränke aus. Wir besitzen jetzt massenhaft Teller und Tassen. Von Plastikdosen ganz zu schweigen.

Gegen fünfzehn Uhr packen wir schließlich unsere Sachen zusammen und brechen wieder auf. Unser erstes Aktionswochenende war für uns sehr ereignisreich und schön. Insbesondere ist uns aufgefallen, wie freundlich und aufgeschlossen uns die Menschen begegnen, die hier leben. Fast alle haben uns während des ersten Kennenlernens spontan Hilfe und Unterstützung angeboten, sollten wir sie benötigen. Und wir haben in diesen zwei Tagen schon viel auf unserem Grundstück bewegt. Wir sehen, dass wir viel von dem geleistet haben, was andere Arbeit nennen, aber wir haben alles gern und aus freien Stücken gemacht, einfach nur für uns, und nur für uns allein, und deshalb sehen wir es eher als Fortschritt denn als Arbeit. Der erste Schritt der Verwandlung vom verlassenen alten Bauernhof hin zum Selbstversorgerprojekt voller Wünsche und Träume ist gemacht. Willkommen im Leben, Fruitlands!